Er stand vielleicht schon seit ein paar Stunden vor der Kathedrale. In seinem langen Leben war er schon oft daran vorbeigegangen und -gefahren, aber er hatte sich noch nie ins Innere gewagt... Im Gegenteil, er hatte sein Tempo beschleunigt und versucht, den Gedanken zu entkommen, die ihn oft verfolgten. Bis zu diesem Tag...
Und heute, als die letzten Passanten nach Hause eilten und die wenigen Autos vorbeifuhren, stand er da und schaute zur Kathedrale, und dieses Mal war er nicht bereit zu gehen... Stehend, sich erinnernd und als würde er auf etwas warten...
Vor vielen Jahren hatte seine Mutter ihn als Kind in die Kathedrale mitgenommen. Sie sagte damals, dass dies ein Ort sei, an dem man mit Gott sprechen könne. Um seine Sorgen zu erzählen und Antworten auf Fragen zu finden, die ihn innerlich quälten. Sie sagte, dass sich jeder in diesen Mauern wiederfinden kann, aber er muss Glauben haben... Auch, dass Kinder um etwas Unmögliches bitten können, und wenn das Kind aufrichtig und rein ist, kann der Wunsch in Erfüllung gehen...
Wie lange das schon her war...
Dann stand er an der Seite seiner Mutter und dachte laut in seiner kindlichen Welt, dass er immer ein Kind sein würde, dass seine Mutter und die ganze Familie für ihn da sein würden. Er wünschte sich auch, dass seine Schwester, die sehr krank war, wieder gesund würde und wieder mit ihm spielen könnte wie früher. Sie gingen hinaus, seine Mutter schaute ihn mit liebevollen Augen an, lächelte und sagte, dass er eines Tages, wenn er soweit sei, wieder hierher zurückkommen würde. Und sie würde genau an dieser Stelle auf ihn warten.
Er wusste noch nicht, wie viel nicht in Erfüllung gehen sollte. Aber ihre Worte trug er durch sein Leben.
Und ein paar Tage später kam der Krieg in sein Land...
Sein Haus wurde durch einen Raketentreffer zerstört, wie viele andere Häuser in seinem Land auch. Er erinnerte sich, dass er tagelang in den Trümmern lag. Nur die Sonne, die durch die Ritzen schien, ließ darauf schließen, dass er noch am Leben war... Er konnte das Quieken des Welpen hören, den er am Tag zuvor zum Geburtstag bekommen hatte und der am zweiten Tag verstummt war. Er erinnerte sich daran, wie er das zerbrochene Kinderbett seiner Schwester zwischen den zerbröckelnden Wänden sah und ein Stück ihres bunten Kleides, das unter der Betonplatte herausragte. Sein ganzes Leben lang hatte er sich gewünscht, sich an das Gesicht seiner Mutter zu erinnern, es aber nie geschafft. Der schreckliche Anblick ihres gebrochenen Arms, der zwischen den Trümmern hervorlugte, verdrängte alle anderen Erinnerungen an sie.
Die Retter fanden ihn am dritten Tag. Aber sein ganzes Leben lang bedauerte er diese Rettung. Er sehnte sich danach, zurückzugehen und mit ihnen zu sterben.
Sie brachten ihn in ein Waisenhaus. Aber er lief weg. Und er lief jedes Mal weg, egal, wo er landete, egal, wer ihn aufnahm... Bis er erwachsen wurde und sie aufhörten, nach ihm zu suchen, ihn zu finden und zurückzubringen...
Aus diesen Kriegs- und Nachkriegsjahren hatte er absolut keine Erinnerung. Die Jahre vergingen, er wuchs heran, aber er konnte nie die Kraft finden, eine Familie zu gründen. Er hatte große Angst, Liebe in sein Herz zu lassen, denn die wilde Angst, alles wieder zu verlieren, war für ihn endlos und alles verzehrend.
Er arbeitete hart, wurde erfolgreich, aber er war immer einsam. Und sein einziger und wichtigster Trost war es, zu helfen. Denen zu helfen, die wie er geliebte Menschen verloren hatten, Hoffnung, Kraft, Gesundheit... Diejenigen, die seit diesen Jahren eine verkrüppelte Seele trugen und in denen die Lebensfreude für immer erloschen war... Indem er jahrzehntelang andere rettete, hatte er seinen Lebenswillen am Leben erhalten, während ein anderer Teil von ihm noch in der Vergangenheit lag.
Jetzt, wo er vor der Kathedrale stand, wurde ihm klar, dass er völlig müde war. Müde von der Angst, müde von der Verzweiflung. Müde von demselben Albtraum, den er seit über siebzig Jahren jeden Tag gesehen hatte. Müde vom Leben... Der Teil von ihm, der weiter nach vorne drängte, gab auf.
Vor der Kathedrale, im Körper des alten Mannes, stand der leidgeprüfte Junge aus der Vergangenheit, der sich ein Leben lang in seinem Hinterkopf versteckt hatte. Er stand und wartete. Er wusste nicht, wie er beten sollte, aber sein Herz rief nach ihr... Denn damals, als Kind, hatte sie versprochen, dass sie auf ihn warten würde, wenn er bereit war...
Er stand und wartete... Und sie kam. Zuerst spürte er eine Berührung an seiner Hand. Dann nahm sie seine Hand und stellte sich neben ihn. Er traute sich nicht, den Kopf zu drehen, weil er Angst hatte, dass sie wieder verschwinden würde und dass es nur eine Besessenheit war. So standen sie eine Zeit lang zusammen. Sie hat ihn nicht gedrängt. Sie wartete einfach und hielt seine Hand. Er brauchte nichts weiter.
Sie wartete. Und er machte den ersten Schritt, dann den zweiten, dann den dritten... Während er einen Schritt nach dem anderen auf die Kathedrale zuging, war er gleichzeitig der glückliche Junge, der als Kind voller Leben neben seiner Mutter gelaufen war. Und der alte Mann, der gekommen war, um eine Frage zu stellen, aber Angst hatte, selbst hineinzugehen... Er hielt ihre Hand und sie half ihm, Schritt für Schritt zu gehen.
Sein ganzes Leben lang gab es niemanden bei ihm, mit dem er alt werden konnte, niemanden, der ihm helfen konnte, seinen Kummer zu bewältigen. Und jetzt, als er vorwärts ging, bemerkte er nicht einmal, wie alt er war. Aber ihre Hand gab ihm die Kraft, die ihn in den letzten Jahren unbemerkt verlassen hatte.
Sie ging mit ihm in die Kathedrale, und dann ließ sie seine Hand los, und er begriff, dass er allein weitergehen musste... Und er ging und hatte Angst, sich umzudrehen und zu sehen, dass er immer noch so allein war wie zuvor.
Er stand nicht in der Mitte der großen Kathedrale, sondern inmitten seiner eigenen geschlossenen Welt. Und in dieser seiner Welt stellte der Junge aus der Vergangenheit, der inmitten des zerstörten Gebäudes feststeckte, die gleiche Frage... WARUM?
Hatte er auf eine Antwort gewartet? Nein. Diese Antwort hatte er in seinem ganzen Leben nicht gefunden, und er wusste, dass er sie auch jetzt nicht finden würde.
Die Stadt um ihn herum schlief ein und versank im Schlummer, aber er wollte nicht mehr schlafen. Sein Traum, sein Albtraum, der ihn sein ganzes Leben lang geplagt hatte und der jedes Mal begann, wenn er die Augen schloss, ging heute zu Ende...
Er stand in der Mitte der Kathedrale und schwieg, und nur die Tränen auf seinem Gesicht sprachen für ihn. Alles, was er jetzt und immer wollte, war, wieder ein Kind zu sein. Und das glückliche Leben leben, das er nie gehabt hatte. Er wollte auch seine Familie wiedersehen. Sich an seine Mutter kuscheln, seinen Vater umarmen und in die Augen seiner Schwester schauen.
Aber es gab eine Menge Dinge, was er nicht wusste. Er hatte nie darüber nachgedacht, wie viel er in seinem Leben für andere getan hatte. Wie viele Leben er gerettet hatte, wie viele Familien er gefunden hatte und wie vielen er geholfen hatte, ein neues Leben zu beginnen. Ihm war nicht bewusst, dass er, obwohl er sich selbst weigerte, Liebe anzunehmen, anderen helfen konnte, sie wiederzufinden. Sie alle waren ihm unendlich dankbar, aber er nahm ihre Liebe nicht an. Sein Herz verschloss sich an jenem Tag, als die Rakete in ihr Haus flog.
Als er jetzt dort stand, erinnerte er sich plötzlich an jeden der Menschen, denen er geholfen hatte. Zum ersten Mal sah er ihre Augen, als sie ihn ansahen. Augen voller Dankbarkeit für alles, was er für sie getan hatte. Wenn er mit seinem verhärteten Herzen Liebe empfinden könnte, wäre er überrascht, wenn er wüsste, wie viele Menschen ihn als ihren zweiten Vater betrachteten. Viele von ihnen lebten in der gleichen Stadt, und viele hatten sich über die ganze Welt verstreut. In diesem Moment wurde die Verbindung zu ihnen allen plötzlich besonders stark. All diese Menschen schliefen irgendwo in ihren Häusern. Aber jeder Einzelne von ihnen war jetzt für ihn da. Sie waren gekommen, um ihn ein letztes Mal zu unterstützen und ihm zu danken! Auch wenn er nicht mehr alleine stehen konnte, standen sie, die den ganzen Dom füllten, an seiner Seite. Sie stützten ihn und schienen alle auf etwas zu warten...
Das Leben verließ ihn, aber er war müde nicht von seinem Leben, er war müde von einem Traum, der sich nicht erfüllen sollte, und von dem Schmerz, den er all die Jahre in sich getragen hatte...
Und als seine Frage aufhörte, in seinem Kopf zu klingeln und sein Herz fast aufhörte zu schlagen, sah er sie! Diejenigen, von denen er wusste, dass er sie nie wieder sehen würde. Diejenigen, zu deren Erinnerung er nicht aufgegeben hatte und in deren Namen er andere gerettet hatte.
Sie standen sich gegenüber und waren wie aus Licht gewebt. Vergänglich, unmöglich, aber unendlich real! Mama und Papa. Und zwischen ihnen, die Hände haltend, stand seine kleine Schwester. Langsam kamen sie auf ihn zu. Mama umarmte ihn fest, küsste ihn und flüsterte ihm zu, dass sie ihn sehr lieb hat und immer wusste, dass er kommen würde. Daddy hielt ihn einfach nur fest an sich gedrückt. So, wie nur er ihn jemals umarmt hatte. Und schaute ihn mit einem Blick aus seiner Kindheit an. Einem Blick voller Liebe und Wärme. Er vermisste diesen Blick so stark...
Und die kleine Schwester stampfte auf, begann an seiner Hose zu ziehen und zu schubsen, wie sie es als Kind getan hatte. Er setzte sich vor ihr auf die Knie. Und sie legte ihre Hände auf seine Wangen und lächelte... Als er sie alle ansah, merkte er zum ersten Mal in seinem Leben, dass das Glück zu ihm zurückgekommen war. Auch wenn es zu spät war.
Er sah sie an und sagte, er sei bereit! Und bat sie, ihn mitzunehmen.
Aber seine Schwester lächelte ihn noch einmal an, legte ihre Arme um seinen Hals und drückte ihn fest an sich. Dann löste sie sich von ihm, küsste ihn auf die Wange und winkte ebenfalls leicht lächelnd mit dem Kopf, als würde sie ihm etwas abschlagen...
Sein Blick verblasste, und alle Gestalten um ihn herum verwandelten sich in Milliarden von glühenden Funken, die sich im Licht des kommenden Morgens auflösten. Sie setzten ihren Weg fort. Und sein Weg war auch noch nicht zu Ende.
Er war gekommen, um mit Gott zu sprechen, und er war den Menschen begegnet, die ihn anscheinend sein ganzes Leben lang geliebt hatten. Und er konnte sich auch von denen verabschieden, die er selbst unendlich liebte...
Sein ganzes Leben lang hatte er sich in den Tiefen seiner verwundeten Seele versteckt, während er der Welt sein großes Herz schenkte.
***
Am frühen Morgen kam eine junge Familie in die Kathedrale. Mama, Papa und ihre Tochter, die gerade erst zu laufen beginnt. Auf dem Boden in der Mitte des Doms sahen sie einen kleinen Jungen. Er schlief im morgendlichen Sonnenlicht, das die Kathedrale durch die Buntglasfenster beleuchtete. Er hatte ein glückliches Lächeln im Gesicht, wie es nur Kinder im Schlaf haben können. Das Mädchen ließ die Arme ihrer Eltern los und taumelte unbeholfen auf ihn zu. Sie ging in die Hocke, nahm seine Wangen mit beiden Händen und lächelte.
Er öffnete die Augen. Und sah seine Schwester, die er vor Jahren verloren hatte, und seine neue Familie. Das Mädchen lächelte und umarmte ihn. Als er aufblickte, flüsterte er nur ein Wort: "Danke".
Er umarmte sie, und nach ein paar Sekunden konnte man nur in den Tiefen seiner kindlichen Augen die Seele dieses sehr alten Mannes sehen. Sein Weg und sein großes Herz hatten seine Schwester zurückgebracht und ihm ein zweites Leben geschenkt. Und die Familie, von der er so lange geträumt hatte... Wenn er zugehört hätte, hätte er noch die leise Stimme seiner Mutter hören können: "Ich liebe dich. Und ich werde auf dich warten, genau an diesem Ort... Wenn du bereit bist..."
Aber er konnte sie nicht mehr hören, er war wieder ein Kind. Und es ag ein langes und glückliches Leben vor ihm. In der Welt, in der es keine vom Krieg verstümmelten Kinderschicksale mehr geben würde!
Er kam, um mit Gott zu reden...
_
® Anatoliy Kavun
Der gesamte Text der Geschichte stammt vom Autor. Das Urheberrecht ist offiziell registriert.
p.s. Der auf der Ressource veröffentlichte Text ist eine Version für die Online-Veröffentlichung.
Für Printverlage gibt es auch eine ausführlichere Version.
Die Geschichte wurde aus der Originalsprache des Autors übersetzt. Wir würden uns freuen, wenn Sie uns auf etwaige Ungenauigkeiten in der Übersetzung aufmerksam machen würden.